NEONICHTS, 36 min, HD, 2008 eng. subs from matze goerig on Vimeo.
„Vergiss den Strick nachher nicht.“
Dieser Text muss scheitern. Neonichts verwehrt sich dem Zugriff. Je näher man an den Film herantritt, desto mehr verschwimmt er, wird unscharf. Das Sprechen über den Film wird ein Sprechen über das Scheitern an dem Film. Warum sich mit Aufbau und einzelnen Elementen eines Films auseinandersetzen, wenn diese nur noch auf die eigene Entleertheit verweisen? Wie von dieser Leere sprechen? Wo mit den Mitteln der Kunst- und Unterhaltungsindustrie eben diese demontiert wird, dreht sich die Diskussion im Kreis. Wo das Scheitern einsetzt, sobald man das Wort ergreift, muss man stumm bleiben- oder eben scheitern. Dass man bei letzterem in NEONICHTS nicht alleine ist, sondern der Betrachter gemeinsam mit dem Künstler (am Werk) scheitert, kann dabei immerhin ein wenig Trost spenden. Und zeugt vom Glauben, trotz allem doch noch etwas zu sagen zu haben.
Matze Görig geht es in NEONICHTS nicht um ein Aufdecken der Verhältnisse. Er weiß, dass er selber viel zu sehr verstrickt ist, um mit dem Finger auf sie zeigen zu können. Aber er kann die Verstrickungen zum Thema und das Scheitern zum Ziel seiner Arbeit machen. Scheitern als „Fehlschlagen eines Vorhabens“ wird performativ ad absurdum geführt, wenn das Vorhaben das Scheitern selbst ist.
Zu Beginn des Films erhält ein mit Hornbrille, altmodischen Kleidern und schlurfendem Gang ausgestatteter Herr Jedermann die Einladung in eine eigens für ihn konzipierte Welt. Bevor er eintritt, muss er jedoch erst einmal sterben, genauer gesagt: mehrfach. Altersschwach im großen Doppelbett oder durch malerisches Erhängen mit dem Strick am Baum auf dem Hügel. Ist der eine tot, tritt sogleich der nächste Herr Jedermann an seinen Platz und führt den Kreislauf fort. Oder ist es immer derselbe? Und der gescheiterte Tod nur eine weitere Anspielung auf die so oft zitierte Zirkelkonstruktion, die nicht durchbrochen werden kann?
Die Welt, in die Herr Jedermann so feierlich gebeten wird, entpuppt sich bald als Labyrinth auf textlicher und räumlicher Ebene. Die auftauchenden Figuren sind, wie streng genommen auch Herr Jedermann, keine Figuren im dramatischen Sinne, sie erscheinen als bloßes Füllmaterial ohne eigenen Handlungsspielraum: „Wir sind ein Provisorium.“ Sämtliche Figuren werden von Matze Görig verkörpert. Ob alt oder jung, Mann oder Frau, immer blickt Herrn Jedermann das trotz Kostümierung leicht wiedererkennbare, eigene Gesicht an. Echte Begegnungen können dabei nicht stattfinden: emotionslos stolpert Herr Jedermann von Station zu Station, knipst wahllos Bilder mit einer ihm von den Torhütern überreichten Kamera und lässt sich mit Texten berieseln, die sich vermehrt widersprechen und dadurch selbst aufheben, die in ihrer Fragmentarität zufällig wirken und sich der eindeutigen Interpretation entziehen. Wir befinden uns im Neonichts, großartig angekündigt mit Pauken und Trompeten, aufwändig in einer Tour de Force produziert und in den weitläufigen Räumlichkeiten der Lothringer13 an drei verschiedenen Orten monumental und kreischend bunt präsentiert, im Grunde aber ‚nur’ ein neues Nichts oder eben: nichts Neues (Görigs spätere Arbeit Superhammer wird diesen Präsentationsmodus konsequent weiterführen). So bleibt auch der Ausbruch des Herrn Jedermann aus seinem Biedermeier-Ambiente nur ein scheinbarer, die Alternative erweist sich als hohl und jede Bewegung als zirkulär. Es ist eine Einladung ins Nichts, die er erhält, ein Nichts, dem er immer schon ausgesetzt ist.
Es gibt einen singulären Moment, in dem Herr Jedermann zur Tat schreitet und der allgemeinen Informationsflut etwas entgegensetzt: nach Einblendung des ‚Regisseurs’, hochgradig überzeichnet und auf humoristische Weise sehr auf den Punkt getroffen, der zunächst eine Außenposition zu eröffnen und so die Konstruiertheit des Raumes hervorzuheben scheint, reißt Herr Jedermann den Film aus seinem Fotoapparat. Das Bewusstwerden der eigenen Künstlichkeit zieht den Sinnverlust der individuellen Erfahrungen und Handlungen nach sich, die Bearbeitung oder Dokumentation des Erlebten ist immer schon eine Dokumentation der Dokumentation und führt nur zu einer Doppelung der Bilder, zum Neonichts. Der genuin schöpferische Akt ist eine Unmöglichkeit- Matze Görig in einem Interview: „Kunst könnte man als eine Art Umdekorierung der Gegebenheiten sehen.“
Dass der ‚Regisseur’ aber nicht Schöpfer des Systems, sondern genauso hoffnungslos darin verstrickt ist wie alle anderen auftauchenden Stereotypen und Herr Jedermann selbst entgeht letzterem. Sein Autonomieversuch führt ihn in den Tod und damit wieder an den Anfang des Films, das Neonichts erweist sich als Treibsand. Die mit Voranschreiten des Filmes zunehmende Verschlechterung der Bild- und Tonqualität und die immer widersprüchlicher werdenden Textfragmente sind die einzigen linearen Entwicklungen und spiegeln doch nur den allgegenwärtigen Zerfall wider: „Vergiss den Strick nachher nicht.“